HS Lichtenthal, Baum der Erkenntnis, 1235

Wahrnehmung:

  • Die erste Wahrnehmung notiert zwei nackte Menschen, eine um einen fruchtreichen Apfelbaum sich kringelnde Schlange, einen Drachen (der in den Schwanz der Schlange beißt), das Handlungszentrum auf der linken Seite, den ungewöhnlichen Rahmen des Bildes. [Bildausschnitt]
  • Beobachtet werden kann darüber hinaus die relativ plakative Darstellung, die kräftige Farbgebung, die durch die Blicke der vier Beteiligten vorgegebene Zentrumsbildung auf der linken Seite des Bildes. Das Bild ist nicht perspektivisch aufgebaut, die Zeichnung der Figuren ist schematisch, Geschlechtsmerkmale werden mit Ausnahme des Bartes vermieden.
  • Zum Verstehen des Bildes sind weiterhin einige Informationen notwendig. Z.B. solche über Buchmalerei im Allgemeinen (seit wann üblich, welche Periodisierungen, welcher Zweck) und im Besonderen (gotische Buchmalerei). Wichtig sind Erkenntnisse über den Gebrauchskontext des Bildes (ein Psalter für Benediktiner).
  • Der Betrachter ist nicht direkt im Bild angesprochen, die Figuren blicken sich nur gegenseitig an. Erste Reaktionen dürfte die thematische Zuordnung des Bildes sein (der Kontext ist zu eindeutig). Die Reaktion des historischen Betrachters dürfte durch den Kontext bestimmt worden sein, der hier nicht mehr zugänglich ist.
  • Der Bezugstext ist eindeutig Genesis 3, er ist unschwer aus dem Bild zu rekonstruieren. Schwieriger sind bestimmte ikonographische Details wie etwa der Drache, der erst im Kontext der christlichen Ikonographie verständlich wird und zudem auf das Neue Testament verweist die Parallelität von Schlangenkopf und Evas Hand, die eine Art Komplizenschaft herstellt die nur indirekt erschließbare Tatsache, dass Eva schon vom Baum gegessen hat (sie bedeckt ihre Scham) auch die Verbindung des Apfels zur Sünde (malum).
  • Der lebensweltliche Bezug könnte in der - auch heute noch latent wirksamen - Zuweisung der Verantwortung erkannt werden.

Beschreibung:

In einer symmetrischen Gegenüberstellung Eva und Adam. Adam, erkennbar an der Haartracht und dem Bart, hält in der linken Hand einen roten Apfel, den er zum Mund führt, während er mit der Rechten einen weiteren Apfel greift, den ihm die Schlange anbietet. Adam hat von der Frucht noch nicht gegessen, denn seine Nacktheit ist ihm noch nicht bewusst. Die Schlange windet sich um den Baum der Erkenntnis, der als Apfelbaum mit drei Kronen dargestellt ist. Der gepunktete Schlangenkörper und der rote Baumstamm sind spiralig miteinander verbunden. Der Schlangenkopf endet auf der Seite Adams und bietet diesem eine verbotene Frucht dar. Eva steht rechts vom Baum, ihre Rechte zeigt auf Adam. Die Parallelität ihrer rechten Hand mit dem Schlangenkopf verweist auf die gemeinsame Verantwortung für den Griff zur Freiheit und demonstriert ihre komplizenhafte Aktivität. [Bildausschnitt] Eva hat bereits von dem Baum der Erkenntnis gegessen, sie ist sich offensichtlich ihrer Nacktheit bewusst. Die Schlange endet im Maul eines Drachens, auf dessen Flügel Adam mit seinem rechten Fuß steht. In der christlichen Ikonographie kann der Drachen die Erbsünde symbolisieren. Hier könnte die Kombination von Adam und Drachen ein Hinweis auf den 'neuen Adam' nach Römer 5, 14 sein.